«Mut zum Experiment» — Ein persönliches Statement
Vor rund 50 Jahren waren wir als EMK in der Schweiz in einer Aufbruchsphase. Es ging vorwiegend darum neue Wege zu gehen, um die Menschen in den wachsenden Agglomerationen zu erreichen. Die begleitende Struktur für neue Aufbrüche in Mission und Diakonie wurde durch ein Team gewährleistet, welches «Mut zum Experiment» genannt wurde. Das Team berichtete über die Kommission für kirchliche und theologische Fragen an die Jährlichen Konferenzen.
Ich wünsche der Kirche heute in der Polarisierung rund um die ethische Frage der menschlichen Sexualität mehr «Mut zum Experiment».
Ich schätze die weltweite Connexio in der United Methodist Church. Zumeist habe ich sie als Bereicherung erfahren. In einzelnen Themen erlebe ich die Connexio auch als Belastung. Seit der Generalkonferenz von 1972 verbrauchen wir viel zu viel Energie, um uns in den Fragen der menschlichen Sexualität und den entsprechenden, prohibitiven Weisungen in der Kirchenordnung auseinander zu setzen. Wir errichten Zäune und schmerzliche Grenzen, mit welchen wir uns einschliessen oder andere ausschliessen. Seit der Generalkonferenz 1976 verfolge ich persönlich diesen Streit in unserer weltweiten Kirche als Delegierter an die Generalkonferenz und später als Bischof der Kirche. Der Streit ist fruchtlos und schwächt unsere missionarische Kraft. Wir sollten uns weniger hinter Gesetzen und Paragraphen verschanzen, sondern der eigenen ethischen Verantwortung und Gestaltungskraft mehr vertrauen. Unsere Herzen sind in dem anhaltenden Streit hart geworden, und wir tragen eine Tendenz zur «Inquisition» in uns. Wie können wir die unsägliche Polarisierung, in welche wir uns hineinmanövriert haben, zivilisieren?
Bei keinem anderen Thema legen wir die Heilige Schrift des Alten Testamentes so ausgrenzend und aggressiv aus. Ich zitiere dazu aus 5. Mose 27, 11 ff: « Verflucht sei, wer seinen Vater oder seine Mutter verunehrt; Verflucht sei, wer seines Nächsten Grenze verrückt; Verflucht sei, wer das Recht des Fremdlings, der Waise und der Witwe beugt». Das sind Bannflüche, welche der Ordnung in den Zehn Geboten folgen. Sie sind besetzt von der Angst, das Volk Gottes könnte in und nach der babylonischen Gefangenschaft seine Identität verlieren. Gesetzlichkeit ist oft eine Folge der Angst.
Warum sind wir nicht fähig den Sitz im Leben der alttestamentlichen Gesetze zu erkennen und uns um so mehr an Jesu Wort und Leben zu orientieren? Dass wir Jesus nachfolgen und von ihm lernen wollen, ist unser aller Begehr. Ich lade dazu ein, in einzelnen sozialethischen Fragen durch die Orientierung an Jesus uns gegenseitig verantwortliches Handeln zu zutrauen und verschiedene Wege zu akzeptieren. Nur so funktioniert eine Gemeinschaft, welche den Pilgerweg in Freiheit und Verantwortung in der Nachfolge Jesu gehen will.
Für ein Moratorium, welches die eine Streitfrage, die uns nun schon bald 50 Jahre in der weltweiten Kirche beschäftigt, ausklammert, ist es wohl zu spät. Dabei sollten wir uns als Kirche dringendst anderen, wichtigeren, diakonischen und missionarischen Themen zuwenden. Ich leide zurzeit an unserer Kirche. Sie ist wie mit Blindheit geschlagen, und ich hoffe und bete dafür, dass die Kirche geheilt wird und sich wieder ihren eigentlichen Aufgaben zuwendet: der Welt das Evangelium vom Reiche Gottes und von seiner versöhnenden und heilenden Kraft zu verkündigen, und das auch vorzuleben. Wir folgen nicht unkritisch den Veränderungen in der Zivilgesellschaft, sondern orientieren uns an Jesus, der damals und heute unter dem Gebot der Liebe neue Wege führt.
Ich würde es unserer Zentralkonferenz und den einzelnen Jährlichen Konferenzen zutrauen, ein offenes Leitbild zu erarbeiten, welches einen Rahmen gibt, um anderen Überzeugungen Raum zu geben und sie in der Nachfolge Jesu verantwortlich auszugestalten. Das wäre «Mut zum Experiment». Dabei bleiben wir als Bundespartner in der Nachfolge Jesu in einer Kirche vereint. Wir berufen uns auf den einen Herrn, in dessen Auftrag wir stehen. Ganz im Sinne des Epheserbriefes.
«Überhebt euch nicht über andere, seid freundlich und geduldig! Geht in Liebe aufeinander ein! Setzt alles daran, dass die Einheit, wie sie der Geist Gottes schenkt, bestehen bleibt. Sein Friede verbindet euch miteinander. Gott hat uns in seine Gemeinde berufen. Darum sind wir ein Leib, und es ist ein Geist, der in uns wirkt. Uns erfüllt ein und dieselbe Hoffnung. Wir haben einen Herrn, einen Glauben und eine Taufe. Und wir haben einen Gott. Er ist unser Vater, der über allen steht, der durch alle und in allen wirkt» (Epheser 4, 2 – 6; aus Hoffnung für alle).
Nach meinen vielen Dienstjahren als Pfarrer und als Bischof kann ich mit Überzeugung sagen, dass die Evangelisch- methodistische Kirche nicht geneigt ist, sich wegen einzelnen, schwer zu deutenden Schriftstellen so verunsichern zu lassen. Ich glaube, dass Jesus in unserer Mitte ist. Sein Reden, Leben und Lehren leitet uns an, eine liebevolle und integrative Glaubensgemeinschaft zu schaffen. Ich bete für die Kirche. Und ich erhebe meine Stimme zur Bestätigung unserer großen Tradition der gelebten Gnade.
Praktisch sähe das vielleicht so aus, dass wir die übergeordnete Verfassung und die Ordnung der weltweiten UMC stehen lassen. Das ‘Book of Discipline’ ist der Rahmen, welchen sich die weltweite Gemeinschaft zurzeit gegeben hat. Aber eine Jährliche Konferenz (welche ja die grundlegende Körperschaft in der UMC ist) oder in deren Namen die Zentralkonferenz, kann aus missionarischen Überlegungen die Verantwortung übernehmen, mehr Flexibilität zu zulassen. Es geht darum, einen Rahmen zu schaffen, in welchem einzelne Gemeinden, oder auch Pastoren und Pastorinnen ihre offene Überzeugung umsetzen können. Kriterien sollen sein, dass sie dem Auftrag Jesu dienen, um Menschen in die Gemeinschaft mit ihm zu führen. So könnten einzelne Gemeinden entstehen, welche sich als «LBGTQ freundlich» deklarieren. Ihre Mitarbeiter oder Mitarbeiterinnen wären frei, gemäss ihrer Überzeugung zu handeln. Sie stehen unter der Aufsicht des Kabinetts und der Jährlichen Konferenz. Sie bleiben aber von kirchenrechtlichen Anklagen und Aburteilungen verschont. Die Kirchenordnung und die Reglemente der Zentralkonferenz könnten später angepasst werden, wenn es vertiefte Erfahrungen mit diesem «Mut zum Experiment – Projekt» gibt. Einzelne PfarrerInnen und/oder Gemeinden sollen sich in diesem Projekt für eine Öffnung in den Fragen zur Homosexualität und Ehe für alle entscheiden können. Jedoch kann niemand verpflichtet werden, gegen sein Gewissen Dienste zu übernehmen, welche nicht seiner Überzeugung entsprechen.
Für einen solchen Weg braucht es, wie der Epheserbrief sagt, ein aufeinander-zu-gehen in Freundlichkeit, Demut und Geduld.
Wer die Kirche als lernende Weggemeinschaft in der Nachfolge Jesu sieht, der sollte den Mut zu einem solchen experimentellen Weg haben.
Heinrich Bolleter, Bischof im Ruhestand
Im November 2019