Die Erfahrung mit multikulturellen Gemeinden zeigt, dass eine solche Gemeinschaft unter einem Kirchendach nicht ohne Spannungen abläuft. Deshalb wollen wir vermehrt darüber nachdenken, wie wir miteinander umgehen.
‘Auf Augenhöhe’ ist ein Schlagwort unserer Zeit geworden. Damit reden wir zumeist die Probleme im Zusammenleben schön. Niemand will als unfair gelten. Aber die realen Verhältnisse sind anders. Da begegnen sich Menschen mit ganz unterschiedlichen Lebensgeschichten und Lebenssituationen. Das kann reizvoll sein, aber auch belastend für beide Seiten. Es gibt Helfer und Hilfebedürftige, Privilegierte und Gedemütigte, Mächtige und Ohnmächtige. Wir haben unsere Bilder über die anderen. Wie gehen wir mit Vorurteilen (Stereotypen) um? Die Bemühungen um ‘Augenhöhe’ können nicht darüber hinweg täuschen, dass ein Gefälle oder ein Graben da ist. Ja, die Bemühungen auf Augenhöhe zu reden, zu entscheiden und zu handeln führen auch zu Enttäuschungen und Überlastungen und entwickeln eine angespannte Atmosphäre.
«Auf Augenhöhe» biblische Anregungen
«Haltet euch nicht selbst für klug…» (Römer 12,16b)
«...sondern in Demut achte einer den andern höher als sich selbst» (Philipper 2,3b).
Der Apostel rät zu einem produktiven Vorurteil: «Haltet euch nicht selbst für klug…». Der andere könnte recht haben! Höre auf ihn. Achte sein Verhalten. Du kannst nur lernen. Lauf nicht davon, wenn einer dich kritisieren will, es könnte sein, er hat Recht. Was ist der Grund, warum er dir seine Meinung sagen will? In der Regel gibt es einen Grund, und es wird sich lohnen, ihn herauszufinden.
«Haltet euch nicht selbst für klug, sondern in Demut achte einer den anderen höher als sich selbst». Immer mehr fasziniert mich die Lebensweisheit, die in diesen beiden einfachen Sätzen gefasst ist. Wenn wir uns im Recht fühlen, wenn wir die verachten, von denen wir uns nicht respektiert fühlen, wenn wir uns nicht ernstgenommen fühlen, dann mangelt es an gegenseitigem Respekt. Wenn der eine meint, über dem anderen zu stehen, dann bauen wir eine Menschen-Pyramide. Jeder drängt sich nach oben, drückt den anderen hinunter. Die anderen höher achten als sich selbst, das entspricht dem Aufruf, die Würde jedes Menschen hoch zu achten. Diese beiden kleinen Sätze aus den Paulusbriefen können das Netzwerk unserer Beziehungen in Kirche und Gesellschaft verändern.
Noch herausfordernder ist der Ratschlag Jesu an seine Jünger:
«Sie kamen nach Kapernaum und Jesus fragte sie: Was habt ihr auf dem Weg verhandelt? Sie aber schwiegen, denn sie hatten auf dem Weg miteinander gestritten, wer der Grösste sei. Jesus setzte sich, rief die Zwölf und sprach zu ihnen: Wenn jemand will der Erste sein, der soll der Letzte sein von allen und aller Diener» (Markus 9, 33 – 35).
Diese Geschichte über das Zusammenleben der Jünger Jesu zeigt uns, was «auf Augenhöhe» bedeuten kann. Es geht um den gegenseitigen Respekt.
Auf dem Weg nach Kapernaum gibt es peinliche Augenblicke, in denen die Jünger entdecken, wie wenig sie von Jesus gelernt haben auf diesem Weg. Sie hatten auf dem Weg untereinander besprochen, wer der Grösste sei. Das Gespräch war lebhaft und spannend, vielleicht auch verletzend, respektlos, auf den eigenen Vorteil bedacht. Es wurde vor allem peinlich, als Jesus sie später fragte: Worüber sie sich auf dem Weg ereifert hätten. Es war peinlich, und sie schwiegen!
Warum peinlich? So funktionieren wir doch! Es gibt zum Beispiel in Nigeria in der Igbo Sprache ein Wort, das heisst «nkali». Es bedeutet ‘grösser sein als der andere’. Alle definieren ihre Identität und Kultur mit dem Prinzip von «nkali». Der Grössere, der Stärkere ist der Dominante. Das ist nicht nur in Nigeria so. Es ist eine natürliche Grundhaltung des Menschen. Wir denken zuerst an uns selber. Und die Menschen, welche zu uns gekommen sind, denken auch zuerst an sich selbst. Sie sind nicht besser und nicht schlechter als wir.
Es wurde peinlich, als sie sich bewusst wurden, was da geschah: Sie waren mit Jesus auf dem Weg. Sie folgten dem, der nach der Devise lebt: „Ich bin nicht gekommen, um mir dienen zu lassen, sondern um zu dienen und mein Leben hin zu geben als Lösegeld für viele“ (Markus 10, 43 - 45). Diesem Jesus wollten sie nacheifern. Das bedeutete auch einen neuen Umgang miteinander zu lernen. Sie wollten mit Jesus, den Weg der Liebe gehen. Sie wollten sich distanzieren vom Weg der römischen Herrschaft, wo man Menschen unterdrückte. Sie wollten sich distanzieren vom Weg der Griechen, welche den Erfolg allein vom Wissen abhängig machten. Sie wollten mit Jesus den Weg der Nachfolge gehen, wo Respekt, Liebe und Hingabe zum Leitmotiv werden. Und nun stritten sie, wer der Grösste unter ihnen sei. — Das war peinlich! Der Schreiber des Evangeliums, findet, es ist exemplarisch, was da geschieht. Darum berichtet er über das Lehrgespräch Jesu mit den Jüngern: Sie waren in der Stadt Kapernaum angekommen und hatten sich gastlich in einem Hause niedergelassen. „Und Jesus setzte sich, rief die Zwölf und sprach zu ihnen: Wenn jemand der Erste sein will, sei er der Letzte von allen und der Diener von allen.“ Vielleicht hat sitzendes Lehren etwas zu tun mit Begegnen auf Augenhöhe! In diesem Sinn ist es ein exemplarisches Lehrgespräch. Mit provokanten Worten stellte Jesus die damalige gesellschaftliche Ordnung auf den Kopf! Gibt es da nicht interessante Alternativen zur heutigen Weltordnung oder auch zu unseren Gemeindeordnungen? «Wenn jemand der Erste sein will, sei er der Letzte von allen und der Diener von allen».
Diese Geschichte zeigt uns, was «auf Augenhöhe» bedeuten kann. Es geht um den gegenseitigen Respekt. Gegenseitige Wertschätzunggehört zu unserer christlichen Grundhaltung im Miteinander, in der Gemeinschaft.
Vom biblischen Input her kann eine Verständigung, was «auf Augenhöhe» bedeutet, gewagt werden:
«Auf Augenhöhe» steht für die Achtung, die jeder Mensch dem anderen entgegenbringen soll, gerade auch über die Grenzen der Kulturen und gesellschaftlichen Systeme hinweg. Ein offener Umgang mit vorhandenen Vorurteilen ist wichtig. Gegenseitige Wertschätzung kann im offenen Miteinander gelernt werden und Vertrauen schaffen.
Also: Auf Augenhöhe — was heisst das?
Es ist der Versuch, dass sich Menschen in der Begegnung als tatsächlich gleichwertig sehen und erfahren.
Es geht um das Bewusstsein der Würde des anderen.
Das muss bei jeder Begegnung neu, also im hier und jetzt, eingeübt werden.
Und es ist vor allem eine Frage der inneren Einstellung und
bedeutet im anderen das Antlitz des Christus erkennen.
Worauf wir im multikulturellen Zusammenhang speziell achten sollen:
1. Umgang mit Stereotypen (Vorurteilen)
Wir alle haben diese Bilder über andere und über uns selber. «Die Schweizer sind pünktlich — auf die Menschen aus den südlichen Ländern muss man stets warten». Zuerst muss ich etwas positives über die Stereotypen sagen. Unsere eigene kulturelle Identität wird gestärkt, wenn wir mit Stereotypen positiv umgehen. Oft erkennen wir erst durch die anderen, was typisch an unserer eigenen Kultur ist. So können wir in der Begegnung mit den anderen unsere eigene Identität entdecken und entwickeln.
Wie gehen wir positiv mit kulturgebundenen Stereotypen um? Wenn wir miteinander über unsere Unterschiede lachen können. Urteile und Vorurteile fröhlich benennen. Sie dürfen jedoch nicht verletzend sein! Wenn es weh tut, müssen wir uns Zeit nehmen und darüber sprechen. Und uns, wo nötig entschuldigen. Das tut allen gut.
2. ‘Helfen’ und ‘bestimmen’ — Machtfragen
«Auf Augenhöhe» einander helfen? Die Absicht und die Realität klaffen häufig auseinander. Wenn Probleme auftauchen, entstehen schnell Spannungen und Konflikte. Im Verhalten schalten wir dann auf den „Auto-Pilot-Modus“, d.h. wir reagieren aus dem Affekt. Die Reaktionen folgen dann der Logik des Affekts und nicht mehr der guten Absicht, sich «auf Augenhöhe» zu begegnen. Der Affekt gründet in unserem Unterbewusstsein, welches uns sagt, dass unser Gegenüber eben doch sehr schwierig ist. Das Unterbewusstsein suggeriert uns auch, dass «meine Welt» die einzig wahre und richtige ist, und dass die anderen sich anpassen sollen.
Die Helfenden sind die Stärkeren, aber sie sind nicht immer im Recht. Die Hilfsempfänger müssen mit reden und auch NEIN sagen können. Wir können noch viel lernen.
Wir müssen stets darauf bedacht sein, Verantwortung und Macht zu teilen. Helfen und Bestimmen liegen oft nahe beieinander. In der interkulturellen Beziehung regiert nicht das Mitleid und nicht die Unterwürfigkeit sondern der Respekt.
3. Die Rolle der Angst
Die Angst vor dem Fremden oder die Angst, dass uns die Kontrolle entgleitet, ist im Unterbewusstsein angesiedelt und kann sich unreflektiert leicht in Ablehnung und sogar Hass verwandeln. Hier möchte ich den Epheserbrief 3,17 erwähnen: «Christus soll durch den Glauben in euren Herzen wohnen, damit ihr in der Liebe eingewurzelt und gegründet seid!» Die Liebe Christi verändert unsere Herzen und unseren Umgang mit Gefühlen der Angst und des Hasses. Die Angst baut Mauern, treibt in die Flucht, oder sie entflammt Hass und Gewalt. Eine Afrikanerin erzählt: «Ich habe als Kind erlebt, wie die Gehälter meiner Eltern nicht mehr bezahlt wurden. Wie die Marmelade vom Frühstückstisch verschwand, dann verschwand die Margarine, dann wurde das Brot zu teuer, und dann wurde die Milch rationiert. Und dann verschwand mein Onkel, der sich gegen das Unrecht, die Löhne nicht aus zu zahlen wehrte. So drang die Angst in unser Leben ein und die ‘anderen’ wurden zu unseren Feinden». (Nach Chimamanda Ngozi Adichie / aus Materialien vom Netzwerk rassismuskritische Migrationspädagogik, Baden-Württemberg).
4. Gemeinsame, praktische Erfahrungen helfen zum Verstehen und zum Vertrauen
Es geht darum, einen gemeinsamen Boden schaffen. Dazu ist es wichtig, Fragen zu stellen. Die Kulturen sind wie Eisberge. Vom Eisberg sagt man, dass 10 % sichtbar oberhalb der Oberfläche und 90 % verborgen unterhalb der Oberfläche sind. Die unsichtbaren Teile der anderen Kultur gilt es zu entdecken. Viele Verhaltensweisen sind in den tiefer liegenden Werten einer Kultur verborgen. Diese gilt es zu entdecken.
Praktische Erfahrungen sind gemeinsame Projekte, gemeinsames Gestalten der Gemeindewirklichkeit (Hausordnung), gemeinsames feiern von Festen, gemeinsames Kochen, Essen, Spielen, Reden, Tanzen. So kann man die tiefer liegenden Werte der anderen Kultur entdecken und die Trennung der Gemeinde in ein „wir und sie“ überwinden.
Viele Spannungen entstehen ganz einfach durch den Mangel an Kontakten zwischen den ethnischen Gruppen. Darum sollen vor allem gemischte Kleingruppen gefördert werden. Dazu gehören auch Bibelgruppen Gebetsgruppen, Jugendgruppen etc.
Drei gute Wünsche auf den Weg
1. Achtsamkeit
Bei einer Begegnung auf «Auf Augenhöhe» muss uns bewusst werden, wer das «ICH» ist (Selbstkenntnis), wer das «DU» ist (Kenntnis der anderen Kultur und Eigenart) und wer das «WIR» ist (Gefühle des Miteinanders). Für diese Bewusstseinsbildung sollen wir mehr miteinander sprechen und überhaupt mehr Nähe wagen. Freundschaften sind wichtig.
2. Resilienz
Ausserdem braucht es im multikulturellen Kontext die Fähigkeit, erfolgreich mit belastenden Lebensumständen und negativen Folgen von Stress umzugehen (Resilienz). Verständigung, Frieden und Anerkennung sind nicht passive Haltungen der Nichteinmischung sondern sie wachsen durch intensive und oft komplizierte sowie geduldige Arbeit der Bewusstseinsbildung.
3. Respekt
Die Grundeinstellung im multikulturellen Umfeld ist «Respekt».
«Respekt» lernen wir durch gute Vorbilder auch im christlichen Kontext .
«Auf Augenhöhe»: wenn uns das gelingt, so ist es Gnade! Das hat schon Paulus gesagt. Alles Gelingen ist Gnade.
Als Christen orientieren wir uns vor allem an Jesus:
Jesus wurde Mensch: Für Christen ist die Fleischwerdung ein Ausdruck von Gottes uneingeschränkter Liebe für alle Menschen. Der menschgewordene Jesus bestätigt die Würde aller Menschen.
Jesus war ein Flüchtling: Als Kind fand er in Ägypten Zuflucht. Jesus identifizierte sich mit den Unterdrückten und ruft uns auf, in gleicher Weise mit den Schutzbedürftigen um zu gehen.
Jesus begegnet uns im Antlitz der Fremden:Wenn wir in der Gestalt des Fremden Christus erkennen (Matthäus 25), erkennen wir seine Würde und wir werden selber durch diese Begegnung gesegnet.
Aus dem Referat am Connexio-Weiterbildungstagvom Samstag, 12. Januar 2019, in der Evangelisch-methodistischen Kirche Solothurn.
Heinrich Bolleter, Bischof im Ruhestand