Die Kirchen leben im Spannungsfeld zwischen einer zunehmenden Privatisierung der Religion und einer wachsenden Sichtbarkeit der Vielfalt der Religionen. Daraus resultiert eine Verunsicherung über die Rolle von Religion und Kirche im öffentlichen Raum.
Die Privatisierung des Religiösen führt zu einem Defizit an religiöser Orientierung.
Das ist der Kontext in welchem der Auftrag der Kirchen geschieht.
Der Auftrag ist derselbe: das Evangelium zu verkünden und sich zu engagieren für eine gerechte und friedliche Welt im vielschichtigen Kontext unserer Gesellschaft.
Auch der diakonische Auftrag der Kirchen geschieht in dieser Realität unter kirchenfernen Menschen, was eine große Sensibilität für die religiösen, gesellschaftlichen und kulturellen Befindlichkeiten erfordert.
Der religiöse Pluralismus fordert heraus.
Der wachsende religiöse Pluralismus ist unter anderem eine Auswirkung der Migration. Dies ist für die Kirchen kein neues Phänomen. Bisher haben sich jedoch die Zuwanderer eher auch im religiösen und kirchlichen Kontext der Schweiz integriert. Dem ist heute nicht mehr so. Mehr und mehr gehören christliche Kirchen mit orthodoxer und orientalischer Prägung, aber auch Moscheen und buddhistische Orte des Gebetes zum Bild einer wachsenden religiösen Vielfalt. Im säkularen Umfeld der Schweiz wirkt das befremdend und stärkt das Misstrauen gegenüber der Religion. Dieses Unbehagen wird oft in der Diskussion über die religiösen Symbole abreagiert. Kopftuch, Burkas, Minarette, aber auch das Kreuz im Klassenzimmer und die christlichen Feste in den Kindergärten und Schulen sind Gegenstand von mühseligen Diskussionen. Das hängt mit dem Hintergrund einer breiten Verunsicherung über die eigene religiöse Identität zusammen.
Die Kirchen geraten unter Druck, ihr eigenes Profil zu zeigen und gleichzeitig sich für die Anerkennung anderer Glaubenssymbole ein zu setzen — ganz im Sinne der Glaubens- und Gewissensfreiheit.
Durch Vernetzung gegenseitige Vorurteile überwinden.
Interreligiöse Beziehungen müssen an der Basis zu Begegnungen führen. Hier haben die Kirchen Erfahrung und Kompetenzen, welche sie einbringen können. Erfahrungen in der eigenen Kirchengeschichte sollen helfen, Einhalt zu gebieten, wo andere Religionen und Kulturen beschimpft oder verleugnet werden. Grenzen gilt es an zu mahnen, wo religiöse Gefühle verletzt werden oder bewusste Ausgrenzung in der Gesellschaft geschieht. Die oft aufgeregte und provokative Berichterstattung in den Medien gilt es zu hinterfragen. Was provokativ dargestellt wird ist noch lange nicht repräsentativ für eine religiöse Gemeinschaft.
Die Beziehung der Kirchen und Religionsgemeinschaften zum Staat und zur Zivilgesellschaft ist heute unterentwickelt.
Eine Trennung von Kirche und Staat ist kein Tabuthema. Sie darf jedoch nicht zum Abbruch der Kommunikation führen. Schon heute ist es so, dass Bundesämter zu weit entfernt sind, um die Realität der Freikirchen und Gemeinschaften gültig zu beurteilen. Wenn der Staat zum Beispiel die Freiwilligenarbeit der Kirchen und Gemeinschaften diskreditiert (weil sie religiös und vom kirchlichen Eigeninteresse motiviert sei), entspricht das nicht unserer Vorstellung von einem modernen liberalen Staat. Es ist eher ein Rückfall in die Zeit des Kulturkampfes in der 2. Hälfte des 19. Jh. Er gehörte damals und heute zur Modernisierungskrise im Prozess der Neubestimmung der Beziehung zwischen Kirche und Staat.
Unsere Zeit ist weiterhin geprägt von der Säkularisierung und das bei einem gleichzeitigen Wachstum der Vielfalt der Religionen und einem Aufleben von Fundamentalismen und religiösen Polarisierungen. Damit verbunden ist eine akute Verunsicherung auf Seiten der religiösen Gemeinschaften und auf Seiten des Staates mit seinen politischen Verantwortungsträgern. Es bleibt wichtig, den religiösen und den politischen Bereich in der Gesellschaft als zwei unterschiedliche Bereiche klar zu unterscheiden; jedoch beobachten wir dabei eine gegenseitige Entfremdung, welche eine sinnvolle Kommunikation erschwert.
Die abnehmende Wahrnehmung der Kirchen im öffentlichen Bereich.
Der schwindende Einfluss der Kirchen in der Öffentlichkeit sowie der Mitgliederschwund in den Landekirchen machen den Kirchen zu schaffen. Sie kommen unter Druck, sich vermehrt in der Öffentlichkeit zu profilieren. Das beeinflusst auch die Beziehungen der Kirchen, Freikirchen und Religionsgemeinschaften untereinander.
Die Kirchen und christlichen Gemeinschaften werden gezwungen, ihre Positionen klarer und wo immer möglich gemeinsam kund zu tun.
Zwischen Säkularisierung und Extremismus brauchen die Kirchen und Religionsgemeinschaften eine neue Sachlichkeit.
Es gilt, die eigenen Überzeugungen nicht als exklusiv und absolut dar zu stellen, sondern gemeinsam "der Stadt Bestes zu suchen".
Als durch den Glauben motivierte Gemeinschaften können Begegnungen eine angst- und konkurrenzfreie Zone schaffen, in der eine neue Sachlichkeit zum Wohl aller Raum greift. Da ereignet sich Verständigung und Versöhnung. Eine Generation soll heran wachsen, welche sich nicht bestimmen lässt durch Feindschaft und Hass gegen andere Menschen und Kulturen. Sie lernt, miteinander zu leben, statt gegeneinander.
Wo das geschieht, wird das religiöse und das kirchliche Leben nicht aus dem öffentlichen Raum verdrängt, denn es ist Träger eines Klimas, welches von Vorurteilen und Ängsten befreit.
Diese neue Sachlichkeit führt nicht zur Verwässerung des eigenen Glaubens, sondern zu dessen Vertiefung und Bereicherung.
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Heinrich Bolleter (Mittwoch, 04 Februar 2015 20:43)
Ich war inspiriert durch einen Hinweis des Lutherischen Weltbundes über eine Internationale Studiengruppe, welche lutherische Präsenz in der Öffentlichkeit diskutiert (Januar 2015 in Stuttgart).