Ein Zeitfenster für Nordafrika und Europa schaut weg:
Vor 60 Jahren, am 1. November 1954, begann der Algerienkrieg
Nordafrika hat bei den Europäern nicht die Aufmerksamkeit, welche nötig wäre, um die heutige Lage zu verstehen. Der sogenannte arabische Frühling in Ägypten, Lybien und Tunesien wurde in Europa zwar beklatscht und als Wende von totalitären Systemen zu demokratischen Ansätzen begrüsst. Seit jedoch diese Hoffnungen im chaotischen Nachgang verschüttet wurden, schaut man in Europa lieber weg beim Thema Nordafrika.
Algerien ist es bisher nicht gelungen das Trauma des Krieges, der am 1. November 1954 begann und 435'000 Tote forderte zu überwinden. Algerien wurde damals als Teil Frankreichs gesehen. Die Fläche Algeriens war jedoch vier mal so gross wie die Fläche des französischen Mutterlandes. Um den kolonialistischen Machtanspruch Frankreichs nicht zu gefährden, hatte eine französische Stimme in Algerien per Gesetz mehr Gewicht als die Stimme eines Algeriers (acht mal mehr). Damit war die Unterdrückung der Algerier durch die Minderheit der Franzosen so gross geworden, dass sie unerträglich wurde.
Im Frühjahr 1954 gründete der Exil-Algerier Ahmed Ben Bella den FLN (Front de Libération Nationale) und rief die Algerier zum Widerstand auf. Am 1. November 1954 (also vor 60 Jahren) begann einer der blutigsten Kriege vor den Toren Europas. Frankreich schreckte in diesem Krieg vor nichts zurück: Massaker unter der Zivilbevölkerung, Massenverhaftungen und grausame Folterungen. Aber dieses rigorose Zuschlagen heizte den Volksaufstand derart an, dass Frankreich den Aufstand nicht mehr niederschlagen konnte. Im Jahr 1962 willigte General de Gaulle im Vertrag von Evian in den Rückzug der französischen Truppen aus Algerien ein.
Mit Begeisterung feierten die Algerier ihre Unabhängigkeit. Am 1. Juli 1962 stimmten die Algerier in einem Referendum für die Unabhängigkeit ihres Landes. Der proklamierte Sozialismus degenerierte unter Präsident Houari Boumédienne zum Selbstbedienungsladen der Klicke der Regierenden. Sie bedienten sich schamlos an den Oel- und Gasmilliarden des Landes.
Die soziale Not im Lande führte dazu, dass im Jahr 1990 die 38 Millionen Einwohner in den Lokalwahlen ihre Stimme für den FIS (die Islamische Heilsfront) abgaben und 1991 genauso in den Parlamentswahlen. Da griff die Armee ein und verhinderte dadurch eine Regierung der FIS. Europa schaute zu und hatte nicht verstanden, dass das Votum für die FIS nicht ein Votum für den Islamismus war, sondern eine Option, den Status Quo der Armut zu überwinden.
Das Eingreifen der Armee und die Aberkennung des Wahlsieges des FIS führten zu einem zehnjährigen Krieg mit der Islamischen Heilsfront, welche nun als GIA (Groupes islamiques armés) mit Terroranschlägen das Land zu destabilisieren suchten. Das führte zum Tod von über 100'000 Zivilisten.
Im Jahr 1999 rief der neue Präsident Abdelaziz Bouteflika zu einer nationalen Versöhnung auf. Aber die Wunden sind noch lange nicht verheilt. Der Eindruck trügt, dass Algerien im Vergleich mit anderen Nordafrikanischen Staaten einigermaßen stabil sei. Im Jahr 2011 erstickte der Einsatz von 30'000 Polizisten eine Demonstration in Algiers im Keime. Damit war ein algerischer Frühling keine Option.
So bleibt Algerien ein Land, das nicht fähig zu sein scheint, seine Zukunft neu zu gestalten. Armut und Gewalt beherrschen das Land. Eine Aussöhnung mit Frankreich scheint unmöglich; im Gegenteil, der Tonfall bleibt hart. Bouteflika soll unlängst gegenüber Frankreich vom 'Völkermord an der Identität Algeriens' gesprochen haben. Algerien ist nach dem Kongo wohl das zweitgrösste Land auf dem Afrikanischen Kontinent. Es könnte wie andere Länder in Afrika in die Hände der Islamisten geraten. So haben wir uns eigentlich den nordafrikanischen Frühling nicht vorgestellt. Europa schaut weg, wenn es im Maghreb kriselt.
Heinrich Bolleter
Hinweis zur Evangelisch-methodistischen Kirche in Algerien:
Bevor Algerien im Jahre 1962 unabhängig wurde, kannte die methodistische Arbeit in Algerien nur wenig Einschränkungen. Die Kirche besass Missionsstationen, Kinderheime und Kliniken. Damals war die Kirche in Nordafrika als Jährliche Konferenz konstituiert, zu der auch einheimische Pastoren, Laienprediger in Tunesien gehörten. Dann löste sich Algerien von Frankreich. Viele einheimische Christen verliessen das Land, weil sie glaubten, in einem unabhängigen Algerien hätte es keinen Platz mehr für eine christliche Kirche. Acht Jahre später schliesslich ereignete sich das, was die folgende Zeit nachhaltig prägte: Die Hälfte der methodistischen Missionare wurde ausgewiesen, Kinderheime und Internate mussten geschlossen werden, und kirchliches Eigentum wurde vom Staat übernommen. 1972 vereinigte sich die Evangelisch-methodistische Kirche mit den meisten anderen evangelischen Denominationen zur Protestantischen Kirche Algeriens, und die methodistische Arbeit in Nordafrika wurde als Distrikt der Jährlichen Konferenz Schweiz-Frankreich-Nordafrika organisiert. (siehe: http://www.umc-europe.org/nordafrika_d.php )