Wir sind ‚Zeitlinge’, wir leben auf Zeit. Diese Tatsache bestimmt unser Verhältnis zu den Fragen von Leben und Tod. Einerseits leben wir in einer Kultur, welche den Tod verdrängt, denn wir suchen vor allem dem Leben mehr ab zu gewinnen. Das ist jedoch nur eine Facette unseres Verhältnisses zum Sterben und zum Tod. Wir werden andererseits täglich mit Meldungen konfrontiert, welche vom Sterben und auch vom gewaltsamen Tod unzähliger Menschen berichten. „Media vita in morte sumus.“ Diese Worte aus dem 11. Jahrhundert bestätigen, dass wir ‚Zeitlinge’ sind. Es geht dabei nicht um die Frage was nach dem Tode kommt, sondern darum, wie wir leben können oder doch leben sollen, wenn am Ende der Tod das Leben im hier und jetzt beschließt.
Unlängst hat die öffentlichkeitswirksame Inszenierung des Theologen Hans Küng die Debatte über die „ars vivendi et moriendi“ neu entfacht. Der Kirchenkritiker, der an Parkinson leidet, machte publik, dass er ‚lebenssatt’ sei. Er wolle ‚nicht verenden, sondern sein Leben vollenden’. Gegenüber der «Solothurner Zeitung» betonte Küng, es gebe in der Bibel kein Argument dagegen, dass sich jemand unter Umständen selber das Leben nehme – oder besser gesagt: sein Leben Gott zurückgebe. Mit dieser Aussage sorgt Küng (85) auch im hohen Alter für Aufregung.
Ich will nicht auf die Debatte um die Sterbehilfe einschwenken. Es geht mir hier um unsere Einstellung als ‚Zeitlinge’ zur Vergänglichkeit. Vom Schweizer Dichter und Pfarrer Kurt Marti ist im Jahr 2011 eine kleine Sammlung von ‚Spätsätzen’ erschienen, überschrieben mit dem herausfordernden Titel: ‚Heilige Vergänglichkeit’. Hier zwei Zitate aus besagtem Büchlein: „Heilige Vergänglichkeit. Sie ist vom Schöpfer gewollt und deshalb heilige Vergänglichkeit“, und „Mich ängstet das Sterben bei noch lebendigem Leib, und nicht der Tod. Dieser wird, Gott sei Dank, das Sterben beenden.“ (Kurt Marti, Heilige Vergänglichkeit, Spätsätze, im Radius Verlag, 2011).
Ich frage mich: Wie hast Du’s mit der Vergänglichkeit? Jeden Tag erlebe ich das Werden, Sein und Vergehen in der Natur. Aber auch in den Beziehungen erlebe ich sowohl die Schmerzen als auch die Befreiung der Vergänglichkeit.
In meinem Leben habe ich die Vergänglichkeit der Leitbilder, Konzepte und Gedanken erfahren. Nur meine eigene Vergänglichkeit verdrängte ich solange, bis mir mein Bild im Spiegel die untrüglichen Zeichen meiner Hinfälligkeit offenbarte.
Gott hat das Werden, Sein und Vergehen in den Lauf dieser Welt gelegt. So ist auch die Vergänglichkeit etwas, das zu meiner Existenz gehört. Wenn ich das nicht akzeptieren will, muss ich die Augen vor vielem verschliessen bis es endlich unübersehbar wird, wie der Zahn der Zeit auch an mir nagt.
Wenn Vergänglichkeit zu meinem Leben gehört, dann möchte ich sie auch mit einem Lächeln begrüssen können: So da bist du also wieder — mein ständiger Begleiter. Dabei will ich nicht ein Stockholm-Syndrom aufbauen, jenes Phänomen also, bei dem das Opfer ein positives emotionales Verhältnis zu seinem Geiselnehmer aufbaut. Im hier und jetzt will ich lernen, was es heißt die ‚Heilige Vergänglichkeit’ zu akzeptieren und mit ihr zu leben, denn, wenn ich dieses Leben liebe, dann gehört die Vergänglichkeit dazu. So will ich im Werden, Sein und Vergehen den Respekt gegenüber dem Geheimnis des Lebens und der Würde des Menschen bewahren.
Zum Geheimnis gehört die numinose, das bedeutet die zugleich Vertrauen erweckende und doch unbegreifliche, göttliche Verheißung: Siehe ich mache alles neu. Ich will mit diesem Ausblick jedoch nicht von der Frage ablenken, wie wir im hier und jetzt mit unserer Vergänglichkeit umgehen.
Heinrich Bolleter, Bischof im Ruhestand
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