Prolog zu meinem neuen Buch

Wir erzählen Geschichten, weil wir das Leben lieben.

 

„Gott liebt Geschichten, darum hat er den Menschen erschaffen.“ Elie Wiesel erinnert an diese Weisheit des chassidischen Judentums im Roman ‚Die Pforten des Waldes’ (München 1966). Geschichten bringen das Alltägliche mit dem Göttlichen in Verbindung. Das ‚Geschichten machen’ und ‚Geschichten erzählen’ gehörte schon im Alten Testament zum Menschen als Geschöpf Gottes. Die Geschichten der Chassidim, welche Martin Buber sammelte, zeigen etwas von seiner Sehnsucht nach mystischer Erfahrung, welche er mit religiös- philosophischen Gedanken nicht beschreiben konnte. Im Fluidum des Erzählens jedoch wird vermittelbar, dass Gott mit uns ist.

 

Von verschiedenen Freunden wurde ich aufgefordert, die Geschichte der Evangelisch-methodistischen Kirche von Mittel- und Südeuropa in der Wende und nach 1989 zu schreiben. Ich verweise jeweils auf die Bischofsbotschaften, in welchen ich in der aktiven Zeit als Bischof regelmäßig zu den Veränderungen und Umbrüchen das Wort ergriffen habe. Ich will keine historische Abhandlung über die Evangelisch-methodistische Kirche in der politischen Wende schreiben. Ich habe beschlossen, Geschichten zu schreiben und damit auf Zusammenhänge hinzuweisen, welche mit dem Sammeln von Daten allein nicht verfügbar werden. Es geht um Erfahrungen, welche sich im Rückblick anders lesen als eine akademische Abhandlung.

 

Die Sammlung der Geschichten folgt dem Leben mit allen Turbulenzen und Umbrüchen. Das Erzählen lässt Freiraum für fantasievolle Ergänzung, Unterstreichung und auch für Zeitsprünge. Dies nicht nur zur Unterhaltung, sondern auch, um das Wesentliche der Erfahrungen hervor zu heben. Geschichten motivieren zur Selbsterkundung. Ich bin mir bewusst: Erzählen ist von der persönlichen Sicht und dem Zeitgeist nicht unabhängig. Es gibt keinen Menschen und keine Erzählerin ohne ‚Hinterland’. Im Erzählen schlägt dieses ‚Hinterland’ durch, wird offenkundig, und für den, der es will, auch analytisch verwertbar. Wer erzählt will Überraschung und Nachdenken auslösen. Diese Anregungen lassen sich kaum durch die bloße Darlegung von Fakten bewirken.

 

Zwar ist die Auseinandersetzung mit dem Zeitzeugen in der Geschichtsforschung nach 1989 ein etabliertes Phänomen geworden. Dennoch sollen Zeitzeugen als Geschichtsquelle nicht überschätzt werden. Was passiert, wenn die Zeitzeugen verschwinden? Wird ihre Geschichte weitererzählt? Wie sieht die Zukunft dieser Erinnerungen aus? Die kollektive Erinnerung erweist sich als schwach — auch in der Kirche. Ich muss feststellen, dass die Erinnerungen aus der Zeit der Wende von der Enkelgeneration kaum mehr wahrgenommen werden? Dabei anerkenne ich durchaus, dass die neue Generation vor eigenen Aufgaben und Herausforderungen steht.

 

Diese Erfahrung führt den Zeitzeugen einerseits in eine Katharsis. Sie hilft zu entscheiden, was wir loslassen können. Andererseits bleibt es die Rolle des Zeitzeugen, Empathie aus zu lösen, Mängel in der historischen Verarbeitung aufzuzeigen und sich Gehör zu verschaffen, für das, was Menschen erlebt und erlitten haben.

Im Zeitalter der Internet-Nutzung und der Internet Recherchen wird eine Fokussierung auf die Fakten gefördert. Der User findet, was er sucht — und kaum etwas daneben! Solche Recherchen sind dazu angetan, das Fluidum des Geschichten-Erzählens zu zerstören. Geschichten bleiben wichtig für die Identitätsbildung einer neuen Generation in Kirche und Gesellschaft. Ein Zeugnis ist getragen von Emotionalität, Humor, Sehnsucht, Romantik und vom Numinosen, das heißt von der göttlichen Gegenwart, welche Vertrauen erweckt und zugleich unbegreifbar bleibt.

 

Heinrich Bolleter, Bischof im Ruhestand

 

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Kommentare: 1
  • #1

    heinrich-bolleter (Montag, 17 Juni 2013 14:56)

    Nach solchen Vorüberlegungen könnte das Buch nun geschrieben werden!