Diese zentralen Begriffe sind in den politischen Diskussionen und Forderungen hoch im Kurs. Ich habe sie stets als Leitmotive für das Zusammenleben in gegenseitiger Achtung akzeptiert.
Jedoch verlieren diese Begriffe mehr und mehr an Glanz. Das hängt damit zusammen, dass viele im breiten politischen Spektrum stets lauter nach „Ordnung und Sicherheit“ rufen. Die Lautstärke der Rufenden lässt sich nicht mit einem politischen Lager identifizieren. Der Ruf nach Ordnung und Sicherheit erklingt von hüben und drüben.
Es schiene mir zu einfach, diesen Ruf schlicht mit den Lebensängsten der Zeitgenossen zu erklären. Ich wage eine etwas tiefer greifende Analyse.
Ich bin noch mit der Vorstellung aufgewachsen, tugendhaft Handeln bedeute, das Gemeinwohl höher zu werten als individuelle Selbstverwirklichung.
Jedoch hat in der westlichen Welt in den letzten 50 Jahren sich ein neues Verständnis von Tugend entwickelt. Hans Joas (1948), bis 2011 Leiter des Max-Weber-Kollegs an der Universität in Erfurt, hat mir das Vokabular gegeben für meine eher intuitive Analyse *.
Zwei Formen des Individualismus sind prägend für unsere Einstellung zum Leben und die heutige Abgrenzung zwischen Allgemeinwohl und Selbstverwirklichung: der „utilitaristische Individualismus“ und der „expressive Individualismus“. Der erstere ist die nutzenorientierte Einstellung, welche sich auf kurzfristigen, meist materiellen Vorteil ausrichtet und dieses Ziel oft ohne Rücksicht auf andere verfolgt. Der zweite oder „expressive Individualismus“ zielt auf die Befriedigung der emotionalen Bedürfnisse und sucht die Anerkennung als Individuum. Das kann zur demonstrativen Selbstverwirklichung durch Konsum führen.
Ich möchte nun diese beiden Formen von Individualismus mit den mir auf meinem Lebensweg vermittelten Tugenden vergleichen. Vom christlichen Lebensethos geprägt, waren und sind heute noch die Schlüsselbegriffe für meine Einstellung zum Leben: „Liebe“ und „Gerechtigkeit“.
Dieses Ethos hilft mir die Grenzen eines utilitaristischen oder eines expressiven Individualismus zu erkennen. „Liebe“ und „Gerechtigkeit“ sind für mich auch bedeutsam für eine politische Ethik — und das vielmehr als „Ordnung und Sicherheit“. Es gibt keine soziale Gerechtigkeit ohne die Liebe und es gibt keine politische Ordnung ohne die Gerechtigkeit, welche durch das Ethos der Liebe geleitet ist.
Es bleibt die Herausforderung für jeden Christen, jede Christin, den vorherrschenden, selbstgefälligen Individualismus zu kritisieren und den Ruf nach „Ordnung und Sicherheit“ zum Schutz der eigenen kleinen Welt zu hinterfragen, und die Orientierung nach Gerechtigkeit und Liebe neu ins Gespräch ein zu bringen.
hb
* Hans Joas, Glaube als Option. Zukunftsmöglichkiten des Christentums. Herder Verlag, Freiburg im Preisgau 2012, S. 201ff.
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